Wunderblutlegende & Kapelle

 

Wie bei so vielen märkischen Städten, gibt es für Beelitz kein Datum der Stadtrechtsverleihung. Die Bischofsurkunde von angeblich 1247, echt oder gefälscht, transportiert vermutlich doch ein zuverlässiges Nachrichtenfragment, wenn sie Beelitz oppidum, eine Marktsiedlung nennt. Anzunehmen mit guten Gründen für die Zeit um 1220.

Wie sah das Beelitz von 1247 aus? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es nur eine einzige Grundlage - den heutigen Stadtgrundriß. Dieser hat sicher im Lauf der Jahrhunderte gewisse Veränderungen erfahren - nach dem einen oder anderen Brand hat man, vor allem nach 1700, offensichtlich die Fluchtlinien einzelner Straßen begradigt. Das ist besonders der Grün- und der Edelstraße anzusehen. Im übrigen ist der Grundriß aber so gut erhalten, daß man daraus Schlüsse für das 13. Jh. ziehen kann. Der wichtigste Schluß ist der, daß das Beelitz von 1247 vermutlich fast genau so groß war wie die heutige Altstadt.

 

Beelitz Straßenplan um 1770 Luftbild Beelitz 2003

 

 

Beelitz, war zu klein, um einen der Bettelorden zu einer Klostergründung zu bewegen bzw. auch nur ein einziges Kloster wirtschaftlich ernähren zu können.

Alles in allem war Beelitz eine Stadt, durch die der Fernhandel zog, die selber aber keine Handelsstadt war. Der Markt diente dem lokalen Austausch mit dem Umland - es gibt kein Anzeichen dafür, daß es in Beelitz eine kaufmännische Oberschicht gab, etwa eine Gewandschneidergilde, auch keines einer eigenen lokalen Produktion für den Fernhandel.

Die Stadt Beelitz ist der soziale Rahmen für die spätere Wunderblutverehrung. Die mittelalterliche Volksfrömmigkeit bildet den geistlichen Rahmen für dieses sagen wir mentale, religions-geschichtliche und theologische Phänomen der Wunderblutverehrung in Beelitz. Bis heute wird in jeder katholischen Kirche die im verschlossenen Gefäß auf dem Altar anwesende Hostie als Allerheiligstes, sanctissimum, verehrt, vor dem man bei Betreten wie Verlassen das Knie beugt. Im 13. Jh., dem Jahrhundert der Ketzerkreuzzüge und der Entstehung der Bettelorden, war das Abendmahls-sakrament nach erbitterten theologischen Auseinandersetzungen gerade erst zu dieser überragenden Würde aufgestiegen. Die Verehrung des Sakraments nahm nie da gewesene Formen an. Die Erscheinung des Wunderbluts - der Verehrung wunderbarerweise blutender Hostien - stellt die zugespitzteste Form dessen und zugleich den Übergang von der hoch- zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit dar. Der eigentliche Wunderblutkult bedurfte, um zu einem spektakulären Thema spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu werden, einer langen Vorbereitung. Diese setzte schon in der Spätantike an. Über Jahrhunderte steigerten sich dann in der westlichen Kirche, seit der Christianisierung der deutschen Stämme, Bedeutung und Ausgestaltungsbreite der Sakramentsverehrung. Man kann diesen Prozeß insgesamt als ein Ergebnis der zunehmenden Durchdringung von antikem Christentum und germanischem und keltischem Heidentum verstehen. Dabei ist es die Wechselwirkung zwischen aktivem Volksglauben und absichernder und eingrenzender kirchlicher Dogmatik, welche die Dynamik des Vorgangs in Bewegung setzt und immer neu vorantreibt. Das treibende Motiv des Volksglaubens wie der darauf reagierenden kirchlichen Praxis ist der kultische Bedarf an sinnlicher Vergegenwärtigung und alltagspraktischer Benutz-barkeit. Schon in der alten Kirche hatte man begonnen, das Abendmahl in einen Ritus der Darbringung des Opfers des Leibes Christi auf dem Altar umzuformen, und begriff das Zusichnehmen von Brot und Wein in Analogie zu den im Heidentum gebräuchlichen magischen oder rituellen Speisen als "Heilmittel zur Unsterblichkeit". Die mittelalterliche Entwicklung ging darüber hinaus: Das Heilsgeschehen, der weit zurück liegende Opfertod Christi, wurde in reale gegenwärtige Anwesenheit umgedeutet: in propria vero substantia est nobiscum, "er ist tatsächlich körperlich bei uns".

Die Vorstellung einer realen Anwesenheit in den Sakramenten machte es erforderlich, dem heiligen Gegenstand mit so großer Verehrung wie vor allem auch Vorsicht und Distanz zu begegnen. Besonders mit Vorsicht. Nicht die Kirche war es, die den Laien den Abendmahlskelch entzog - so stellte es sich erst den Hussiten und dann den deutschen Reformatoren dar. Vielmehr verzichteten die Laien von sich aus auf den Kelch: Die Gefahr war zu groß, einen Tropfen geweihten und damit zu Gottesblut verwandelten Weins zu verschütten und damit Unheil auf sich zu ziehen. Ebenso wurde es schon seit dem 9. Jh. in der Westkirche üblich, das gebrochene Brot, durch die einzelne Oblate aus ungesäuertem Teig zu ersetzen. Diese wurde auch nicht mehr angefaßt, sondern vom Priester mit dem Munde empfangen. Die Konsistenz der dünnen kleinen Scheibe erlaubte es, den Leib Christi nicht zu beißen und zu kauen, sondern im Munde zergehen zu lassen. Die Herstellung der Oblate - Hostie hieß sie erst seit Innozenz III. - wurde auch aus der Hand der Laien in die der Mönche verlegt, später dann der Ordensfrauen. In der gleichen Logik liegt es, wenn schon seit der Spätantike überhaupt die Häufigkeit der Kommunion zurück ging - die Gläubigen hätten sie gern auf die letzte Gelegenheit verschoben, vorm Sterben. Das IV. Laterankonzil von 1215 setzte daher die einmalige Beichte und Kommunion zu Ostern als Minimum fest.

Die andere Seite dieser Entwicklung ist, daß sich das Schwergewicht, von der Gemeindekommunion weg, fast vollständig auf die priesterliche Handlung verlagerte, die auf dem Altar während der Messe Brot und Wein in Blut und Leib Christi verwandelte. Dem hatte die scholastische Theologie zugearbeitet, indem sie die Tätigkeit des Priesters, die Konsekration von Brot und Wein, aus einem Akt der zeichenhaften Vergegenwärtigung in einen Akt realer Wandlung überführte.

Das Verständnis des Messopfers als Sühnopfer hatte sich schon im 9. Jh. durchgesetzt. Die Lehre von der Realpräsenz machte die Konsekration nun zur gegenwärtigen Wiederholung des Opfers Christi. Das Messopfer wurde zum eigentlichen Gegenstand der Messe, auf den alles andere nur hinführt. Die liturgische Entsprechung hierzu bildete die Einführung der Elevatio, d.h. die auf das Brot- und Becherwort jeweils folgende Erhebung der Hostie und des Kelches, ein Akt, der seit dem 12. Jh. vom Reformkloster Cluny ausging und zunächst nur die Hostie betraf, aber schon 1209 durch die Synode von Paris vorgeschrieben wurde.

Aus dem kommunikativen gemeindlichen Akt der frühen Kirche war das Opfer zu einem einseitigen Darstellungsakt auf dem Altar geworden, dem die Gemeinde zusah.

"Folgerichtig wurden außer der notwendigen Kommunion des Priesters alle anderen Texte und Riten lediglich als schmückendes Beiwerk (Ornatus) betrachtet, das ebenso wenig wie die Anwesenheit oder das Mitfeiern der Gemeinde konstitutive Bedeutung hat. Die Rolle der Gläubigen besteht nur im ehrfürchtigen Schauen...".

Das Gezeigtwerden bzw. die Anschauung des erhobenen Leibes Christi war es jetzt, was den Mittelpunkt der Messe und überhaupt des kirchlichen Geschehens ausmachte, so sehr, "daß viele Gläubige nur zur Elevatio in die Kirche kamen und sie jedenfalls danach verließen". Die auf dem Altar erhobene Hostie war nun nicht die, die zur Kommunion gereicht wurde, sie war größer und oft mit einem Kreuz gezeichnet. Die wenigen hierzu benötigten Hostien wurden in besonderer Weise verwahrt. Das Leinentuch, auf dem während der Messe Kelch und Patene standen, hieß palla corporale oder kurz corporale, Körpertuch. Es wurde, als Umhüllung des Sakramentskörpers, seinerseits zum Gegenstand der Verehrung: Die neue Volksfrömmigkeit erwartete vom Corporale (Berührung, Segnung mit Corporale) heilbringende Wirkungen. Ebenso hatte das Gehäuse an der Heiligkeit Anteil, in welchem die Hostien verwahrt wurden, das Tabernakel. Es war, und ist bis heute, der sichtbare Ort der ständigen Anwesenheit Christi. Wie kommt es nun allerdings, von der Hostienverehrung ausgehend, zu den zahlreichen Blutwundern des Spätmittelalters?

Der Ausgangspunkt dürfte sein, daß im 13. Jh. der Verzicht auf den Kelch so selbstverständlich war, daß der englische Scholastiker Alexander von Haies, gestorben 1245, lehren konnte, in beiden Gestalten des Abendmahls, Brot wie Wein, sei der ganze Christus gegenwärtig. Die Folge war offenbar, daß das mit dem nicht mehr in Anspruch genommenen Laienkelch aus dem Blickfeld der Laien geratene Blut sich neu anmelden konnte. Denn wenn in der Oblate der ganze Christus war, Leib wie Blut, dann konnte das leibliche Äußere der Hostie bei rechter Gelegenheit auch ein blutiges Innenleben offenbaren. Umgekehrt konnte das natürlich auch für den Wein gelten. Die Vorstellung der Hostie als des realen Leibes Christi mußte das Blut um so mehr an die Oberfläche bringen, je mehr der blutig gemarterte Christus zum Gegenstand der Frömmigkeit wurde.

In der Darstellung des Gekreuzigten ging man im 13. Jh. vom romanischen Bild des Christus triumphans zu dem des leidenden Christus über, der mit den Spuren der Marter und den Wundmalen der Kreuzigung gezeichnet ist. Entsprechend entstand um 1250 der Hymnus Salve mundi salutare des Arnold von Löwen, der anhand von sieben Körperteilen des gekreuzigten Christus den heilbringenden wunden Körper einer erbaulichen Betrachtung unterzieht. Damit steht man schon auf der Schwelle zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit.  Die Hostie als Leib des gemar-terten Christus vorzustellen, machte nun auch einen verhängnisvollen weiteren Schritt möglich: Wenn es die Juden gewesen waren, die Christus hatten leiden lassen, dann war es nur noch ein kleiner Schritt von der Wahrnehmung der Hostie als Leib des leidenden Christus zu der Phantasie, das Martergeschehen verlängere sich in die eigene Zeit, anders gesagt, die Juden des 14. Jh. hätten nichts anderes im Sinn, als auch an der gegenwärtigen Präsenz Christi in der Hostie ihren Haß auszuüben und sie wie den historischen Leib Christi zu martern. Unterstützt wurden sie dabei durch die Bildkunst: Auf dem um 1400 entstandenen Lettner des Havelberger Doms tragen die - an sich römischen - Kriegsknechte der Passionsgeschichte, Bärte und Kleidung der heimischen Juden des 14. Jh., ebenso den Judenhut.

Der Beginn dieser Entwicklung dürfte zweifellos das Jahr 1215 sein. In diesem Jahr fand in Rom unter Papst Innozenz III. das IV. Laterankonzil statt. Das Konzil formulierte angesichts der südfranzösischen Ketzerbewegung der Albigenser und Katharer ein eigenes Credo, das erstmals die Lehre von der tatsächlichen ("veraciter") materiellen Verwandlung ("transsubstantiatus") von Brot und Wein während der Messe in Leib und Blut Christi in den Kanon jener Sätze aufnahm; die noch heute in der katholischen Kirche geltende Transsubstantiationslehre. Die realistische Auffassung des Messwunders war damit Dogma geworden, ein Bollwerk im Kampf gegen die Ketzerei. Es ist klar, daß daraufhin die vorhandene Hostienverehrung einen kräftigen Schub erhielt.

Ein weiterer Meilenstein wurde ein Traum der Lütticher Nonne Juliana, dessen Deutung um 1250 zur - zunächst lokalen - Einführung eines eigenen kirchlichen Festtages zur Verehrung des Altarsakraments führte.  Das ist der Ursprung von Fronleichnam. Nimmt man dies mit dem Hymnus des Arnold von Löwen zusammen, dann wird klar, daß es die wirtschaftlich hochent-wickelten flandrischen Städte waren, die das Zentrum der neuen massenhaften Sakramentsfrömmigkeit bildeten. Das Fest, Fronleichnam, verbreitete sich von Flandern aus so schnell, daß Papst Urban IV. es 1264 mit der Bulle "Transiturus" verbindlich machte: "Wenn auch dieses denkwürdige Sakrament also in den täglichen Messfeierlichkeiten aufgesucht wird, halten wir es gleichwohl für angebracht und wert, daß es zugleich dafür einmal im Jahr - um besonders die Hinterlist und den Wahnsinn der Ketzer zu vernichten - ein feierlicheres und prächtigeres Gedächtnis gebe..."

Daher wird ein bestimmter Tag angeordnet, "und zwar der fünfte Werktag der Pfingstoktave [10 Tage nach Pfingsten], so daß an diesem Tag die frommen Scharen der Gläubigen von Herzen dieserhalb zur Kirche zusammenkommen und Geistliche wie Laien voll Freude im Gesang das Lob erheben."

Hier ist der eingeübte Brauch des Festes also bereits vorausgesetzt. Ein Hinweis auf bestehende Formen ist auch das benutzte Verb: concurrere, zusammenkommen. Concursus ist nicht umsonst der terminus technicus für alle lokalen Sakramentswunder und Wallfahrten. Es kann auch als Hinweis auf die Prozession verstanden werden, die sich alsbald mit dem Fest verband. Das Fest samt Prozession ist also vermutlich die Wurzel alles dessen, was folgt, und seine Einrichtung damit der terminus ante quem non aller Blut- und Hostienwunder.

Der letzte Schritt war die Einfügung der jüdischen Hostienschändung in die Vorstellungswelt der Abendmahlsfrömmigkeit. Hostienwunder ergaben sich allgemein "bei ritueller Nachlässigkeit, bei Glaubenszweifeln und bei Hostienschändungen".

Zu letzterer Kategorie zählt zweifellos das Niederbrennen der Dorfkirche von Wilsnack. Das alles kommt ohne judenfeindliche Affekte aus. Auch den Bestimmungen Innozenz III. vom Anfang des 13. Jh. zum Umgang mit den Juden lag ein Vorgehen gegen Juden noch fern, man war noch damit beschäftigt, die Albigenser zu verbrennen. Erst am Ende des 13. Jh. war das anders: 1290 fand in Paris der erste Prozeß wegen einer angeblichen jüdischen Hostienschändung statt. Damit war das Thema in der Welt, um für Jahrhunderte nicht mehr zu verschwinden.

Alles das ist gemeineuropäisch, kam aber in die heutige Mark Brandenburg erst mit der deutschen Kolonisation, also ab der zweiten Hälfte des 12. Jh. Man kann davon ausgehen, daß die Einwanderer den Stand der Dinge kannten, vertraten und mitbrachten, der westlich der Elbe gegeben war. Andererseits ist nicht zu erwarten, daß eine neue religiöse Erlebnisform sich ausgerechnet hier, im Kolonialland, erstmals zeigen würde. Eher wird man ein gewisses Nachhinken erwarten. Ein deutliches Indiz hierfür: Die Aufnahme des Festes Corpus Christi in die örtlichen Kalender im Erzbistum Magdeburg erfolgte erst nach 1300. Tatsächlich wäre das Blutwunder in Beelitz von 1247, wenn man es für historisch hielte, das älteste in Deutschland. Schon das macht mißtrauisch. Noch schwerer wiegt, daß Beelitz dann wohl weiter gewesen wäre als der neueste Stand der Sakramentsverehrung im Westen, der mit Entstehung und Durchsetzung des Fronleichnamfestes gegeben ist. Ohnehin muß man sich damit zufrieden geben, daß allgemein in der Mark Brandenburg über den Anfängen einer lokalen Frömmigkeitskultur ein dichter Schleier aus Legenden und gefälschten Urkunden liegt. Das gilt ganz besonders für zwei andere märkische Stätten, Zehdenick und Heiligengrabe.

Von dieser Vermutung ausgehend, ist jetzt ein Blick auf die Beelitzer Urkunde von angeblich 1247 zu werfen. Sie ist uns lediglich durch die handschriftliche Chronik des Zweiten Pfarrers in Beelitz Paul Creusing aus dem Jahre 1571 überliefert, also als Abschrift, und damit materiell nicht mehr zu überprüfen. Formal liefert die Abschrift wenig Handhaben. Es handelt sich um eine einfache litera, die üblichere, da weniger formalisierte, Urkundenform Erklärungsbedürftig ist aber der Inhalt. Statt einer knappen Benennung von Anlaß und Umständen bietet das Dokument in seinem ersten Teil eine wortreiche Homilie, d.h. ein Predigtfragment, zum Thema des Abendmahlssakraments, wohin-gegen erst zum Schluß Züge einer Narratio, eben der Benennung des Sachverhalts, aufscheinen. Selbst die Willenserklärung, Kern jeder echten Urkunde, ist merkwürdig unbestimmt gehalten. Bevor man die Urkunde aber als Fälschung verwirft, wird man sie erst einmal genau lesen, zumal auch Fälschungen - in diesem Fall möglicherweise die Eintragung der lokalen Legende in ein aus anderem Grunde erstelltes Formular - erfahrungsgemäß echtes Material transportieren. Was also ist nach Aussage der Urkunde tatsächlich in Beelitz geschehen?

Dazu gibt es zwei Anhaltspunkte, zum einen die der Homilie zugrunde liegende Sakramentstheologie, zum ändern den erwähnten narrativen Rest. Im einzelnen zerfällt der Text in drei Abschnitte. Der erste entwickelt eine Art Sakramentslehre. Die theologische Ausdrucksweise überrascht durch ihre Ferne zu den Formeln sowohl des Laterankonzils wie der Bulle Urbans IV. Es herrscht vielmehr eine deutlich augustinische Ausdrucksweise, das Sakrament wird ausdrücklich als signum, als Zeichen angesprochen. Wenn man das nicht als theologische Eigenwilligkeit stilisieren oder einfach als Anachronismus akzeptieren will, dann muß man eine Absicht unterstellen. Vom einleitenden Satz an, der das Gewand, pallium, des Elia aufruft, daß bei Himmelfahrt Elias in den Händen seines Schülers Elisa blieb (2. Kön. 2,13), wird eine Metaphernkette gesponnen, zu Christus, der bei Himmelfahrt sein Gewand seiner Kirche zurückließ, in dem er ihr nachher auch erschien, zum Abendmahl, bei dem er dieses Gewand webt, bis zum Endpunkt, der Bezeichnung des Sakraments, d.h. der Hostie, als Gewand. Ein zweiter Abschnitt handelt, ausgehend von einem Hiob-Zitat (Hiob 1,14), von jenen "einfältigen Gemütern" (simplicium mentium) unter den Christen, die noch nicht zu glauben vermögen. Christus habe sich so tief verborgen, daß er tatsächlich im Gewand der Sakramente anwesend sei. Damit nähert man sich deutlich der Absicht des Sprechers der Urkunde. Dann kommt er, drittens, zur Sache: "Es kommt auch vor, ... daß gewisse Einfältige in allzu großer Verwegenheit die Gnade des Sakraments mißbrauchen, durch Schändung, Zauber oder anderen unheiligen und heillosen Mißbrauch. Solches Vergehen hält der Herr manchmal geheim oder er schneidet die Vergeltung ab, er eröffnet aber den Unschuldigen die Wahrheit des Glaubens, so wie wir glauben, daß dies kürzlich in der Stadt unserer Diözese, in Beliz, durch Gottes wunderbare Gnade deutlich geworden sei."

Es hat also wohl in Beelitz ein reatus, eine sündhafte Verfehlung stattgefunden, möglicherweise lediglich ein Mißbrauch aus Unkenntnis, wie der auf Vergebung gestimmte Ton ebenso nahelegt wie die umstandslose Überblendung von den Tätern, von denen weiter keine Rede ist, auf die übrigen Gläubigen. Ein Fingerzeig ist möglicherweise der tragende Begriff pallium /Gewand, der siebenmal vorkommt, sechsmal im ersten, einmal und entscheidend im zweiten Abschnitt. Die Hostie ist möglicherweise unbeabsichtigt und unentdeckt, weil in das Corporale gehüllt - was weiß ein simplex schon, was ein corporale ist? -, weggeworfen worden, so wie in unserer Zeit eine Reinigungskraft im Düsseldorfer Kunstmuseum ein Beuys-Werk entsorgte. Was tatsächlich geschah, kann man sich vermutlich gar nicht harmlos genug vorstellen. Um diesen Punkt näher zu beleuchten, seien zwei süddeutsche Beispiele des 15. Jh. herangezogen. In Neukirchen beim Heiligen Blut, einem Marktort in der Oberpfalz, wurde um 1400 der Legende nach eine Hostie auf einem Baumstamm gefunden. Daraufhin wurde eine Kapelle errichtet, aus der sich eine Wallfahrt entwickelte, zu der wenig später eine, durch ein weiteres Wunder ausgelöste, Marienwallfahrt hinzutrat.

 

Kirchplatz vor 1563

Das zweite Beispiel ist die eng lokale Heilig-Blut-Wallfahrt von Burgwindheim, einem Markt im Steigerwald im Tal der Rauhen Ebrach, nahe Bamberg. Für diese gibt es sowohl eine verläßliche zeitgleiche Berichterstattung wie eine klare Trennung und Zuschreibung der Rollen. Der Bericht findet sich in einer besiegelten Urkunde des örtlichen Adels, drei Jahre nach dem Ereignis auf Wunsch des territorial zuständigen Klosters Ebrach erstellt: Am Fronleichnamstag 1465 fiel bei dem Umgang um den Ort die auf einem Altar im freien aufgestellte Monstranz ohne Wind oder Berührung herunter, das Tuch ging auf, "darauf der zart fronleichnam unsers lieben Herrn Jesus sanft auf die erden gevallen ist".

Die Beteiligten reagierten sofort. Die Hostie durfte nicht aufgehoben werden, sie wurde vielmehr umgehend eingehaust. Nach einwöchiger Vorbereitung zog der Ebracher Abt mit dem gesamten Konvent zum Ereignisort, hob die Hostie auf und brachte sie feierlich wieder in die Burgwindheimer Kirche ein.

In beiden Fällen ist also von einem Blutwunder keine Rede, was die Entstehung einer Heilig-Blut-Wallfahrt aber keineswegs hinderte. Beim Burgwindheimer Ereignis kam als verstärkendes Moment hinzu, daß das Wunder sich eben am Fronleichnamstag zutrug. Vor allem aber war das Volk mit der kirchlichen Behandlung der Sache keineswegs zufrieden. Es begann umgehend, den Ort auf dem Hügel neben der Marktsiedlung zu besuchen und zu verehren, und so ließ einer der als Augenzeuge und späterer Zeichner der Urkunde beteiligten Adligen dort eine Kapelle bauen. Diese wurde ausdrücklich dem Heiligen Kreuz und einer ganzen Reihe von Würzburger Heiligen geweiht, das Volk nannte sie aber unbeirrt weiter Heilig-Blut-Kapelle.

Kehren wir jetzt zur Beelitzer Urkunde zurück, dann wundert einen die Unscharfe des Berichts ebenso wenig wie die durchscheinende Milde. Auf die realen Umstände kam es nicht an. In der raschen Überblendung von der Untat zum Gnadenereignis zeigt sich die strategische Absicht des Schreibers; aus dem Ereignis, ohne sich da zu sehr ins tatsächlich Geschehene zu vertiefen, einen sowohl seelsorgerlichen wie materiellen Nutzen zu ziehen. Das entscheidende Ereignis ist nicht die Untat der simplices, sondern Gottes Werk, die wunderbare Wiederauffindung der Hostie. Ob nun blutend oder nicht, ist nicht ganz klar - einen Hinweis auf ein Blutwunder konnte man allenfalls in dem Satz des zweiten Abschnitts sehen, daß den Irrenden "der Vater aus frommer Milde Fleisch und Blut des Kreuzes" offenbare. Wie wenig das besagt, erhellt aus dem Umstand, daß bei Verbreitung des Fronleichnamfestes offenbar weitgehend Corpus Christi mit Heilig Blut übersetzt wurde. Gerade vom Erzbistum Magdeburg weiß man, daß in seinem Einflußbereich das Fronleichnamsfest volkssprachlich als Heiligblutfest bezeichnet wurde. Nicht anders steht es aber z.B. auch, ganz woanders, mit den zahlreichen Heiligblutkirchen in Bayern und Österreich. Das ist ein Indiz mehr für die Datierung eines eventuellen Beelitzer Blutwunders. Am Schluß der Urkunde wird allen, die am Tag nach Mariae Himmelfahrt zur Beelitzer Kirche kommen, ein vierzigtägiger Ablaß zugesprochen. Dieser Abschnitt läßt aufhorchen - er ist nun tatsächlich wortwörtlich aus einer anderen bei Creusing ausge-schriebenen Urkunde übernommen, und damit haben wir eine konkrete Spur, um Beweggründe und Zeitpunkt der Fälschung zu vermuten. Der Passus stammt zwar gleichfalls aus einem Brandenburger Ablaßbrief, aber einem echten von 1392, also anderthalb Jahrhunderte später entstanden. Es ist demnach durchaus möglich, daß die angebliche Urkunde ein Fabrikat ist, dessen reale Abfassungszeit man nach bzw. um 1392 anzusetzen hat. Ein weiterer Grund gerade für diese Datierung ist der folgende: Vermutlich versiegte in den neunziger Jahren der Pilgerstrom, weil alle Büßer sich magisch vom aufblühenden Wunderblutstandort Wilsnack angezogen fühlten. Da hielt man es im Bistum Brandenburg - dieses hätte sich demnach als Nutznießer an die Stelle des Patronatsherren, des Magdeburger Lorenzklosters, geschoben - angebracht, das weitaus größere Alter des in der eigenen Diözese vorhandenen Wunderbluts herauszustellen. Wann hat man dann aber das tatsächliche Beelitzer Blutwunder anzusetzen?

Es liegt nahe, einen Ablaßbrief des Magdeburger Erzbischofs Otto von 1336 zugunsten des Baus der Marienkirche heranzuziehen: Diese Urkunde sichert einen vierzigtägigen Ablaß allen jenen zu, die causa peregrinationis aut devotionis zu dieser Kirche kommen. Peregrinatio, das kann schlechterdings nicht anders denn als Pilgerfahrt gelesen werden. Zudem wird im weiteren der eucharistische Bezug unmißverständlich deutlich gemacht. Also nicht 1247, sondern vor 1336. Aber doch wohl auch nach 1331. Festzuhalten bleibt, daß von einem eigenen Gebäude für die Bluthostie 1336 noch nicht die Rede ist, es geht - eine Frühphase der Wallfahrt - allein um die Marienkirche.

 

 

Quelle: Dieter Hoffmann-Axthelm, Das Wunderblut von Beelitz; Selbstpublikation der Stadt Beelitz 2005